Namen wie Similaun, Weißkugel und Wildspitze sind wohl jedem Bergsteiger ein Begriff. Um die schier endlose Vielfalt des Ötztals wirklich kennen zu lernen, gibt es allerdings eine bessere Perspektive als den Blick hinunter von seinen höchsten Gipfeln. Der Ötztaler Urweg umrundet in 12 Etappen das gesamte Tal, auf insgesamt 180 km. Dabei verbindet er meisterhaft die charmanten Ortschaften mit den unzähligen Naturschönheiten.
Blick aus den blühenden Bergwiesen auf den markanten Acherkogel und das erste Tagesziel Oetz
Der Fernwanderweg startet direkt vor dem alten Bahnhofsgebäude, was die Anreise mit der Bahn zur besten Option macht. Die erste Etappe verläuft von Ötztal Bahnhof nach Oetz. Dies kann als lockeres Warmlaufen betrachtet werden, bietet aber dennoch einen Eindruck davon, was in den kommenden Tagen bevorsteht: zunächst gemütlich am Fluss entlang, dann durch die tosende Auerklamm hinauf, bevor der Urweg mit einem traumhaften Ausblick auf das vordere Ötztal und den hier dominierenden Acherkogel nach Oetz absteigt, vorbei an der denkmalgeschützten Pfarrkirche aus dem 15. Jahrhundert. So oder so ähnlich verlaufen die meisten der 12 Teilstücke. Der Wechsel zwischen gemütlichen Abschnitten, häufig entlang der Ache oder durch blühende Bergwiesen, und steilen Anstiegen in aussichtsreiche Höhenlagen, macht den Reiz des Urweges aus. Obwohl die Etappen mit Gehzeiten von bis zu 6 ½ Std. und über 1000 hm aufwarten, so enden doch alle mit der schmackhaften Tiroler Küche und einem gemütlichen Bett. „Anspruchsvolles Genusswandern“ trifft es wohl ganz gut.
Im Aufstieg zur Auerklamm bieten sich erste Ausblicke auf das vordere Ötztal
Traumhafter Blick aus der Auerklamm auf die malerische Kapelle in Ötzerau
Bereits am zweiten Tag wartet einer der längsten, aber auch schönsten Streckenabschnitte. Von Oetz verläuft der Urweg über den Kalvarienberg nach Habichen, wo am Waldrand das Naturjuwel Habicher See wartet. Nur wenige Meter vom türkisfarbenen Idyll entfernt liegt der „Eiskeller“. Aus den vergletscherten Höhenlagen strömt die eiskalte Luft im Gestein hinunter ins Tal und bahnt sich an eben dieser Stelle ihren Weg an die Oberfläche. Eines ist sicher: Bei 30°C und strahlendem Sonnenschein gibt es wohl keinen besseren Pausenplatz als diesen! Weiter geht es auf versteckten Pfaden über die Elisabeths Höhe nach Tumpen, eine Talstufe höher gelegen. Vorbei am beliebten Klettergebiet an der Engelswand und der malerischen Kapelle Maria Schnee führt der Weg in den lichten Bergwald und über einen fast mystischen Steig zur lang ersehnten Einkehr im Waldcafé Stuböbele. Unüberhörbar kündigt sich der größte Wasserfall Tirols an: der Stuibenfall. Das nun folgende Wegstück ist laut, steil und nass - vor allem aber ein echtes Erlebnis! Über eine 80 m lange Hängebrücke und 700 steile Stufen führt der Urweg am tosenden Wasserfall entlang in das Bergdorf Niederthai, wo auf einen Schlag Stille einkehrt. Aus den donnernden Wassermassen wird der sanft plätschernde Horlachbach, und aus dem Trubel am beliebten Ausflugsziel wird Einsamkeit. Nur die Kulisse bleibt unverändert: atemberaubend!



Die folgenden Etappen erstrecken sich über Längenfeld und Sölden nach Obergurgl. Es warten alte Jägersteige durch verwunschene Bergwälder, urige Almen und eine schwindelerregende Hängebrücke zwischen den abgelegenen Weilern Brand und Burgstein. Dazu gibt es traumhafte Ausblicke auf den gegenüberliegenden Geigenkamm und die schneebedeckten Riesen der Stubaier Alpen. Entlang der Ötztaler Ache geht es durch die enge Kühtrainschlucht nach Zwieselstein, wo sich das Tal teilt („zwieselt“) und der Urweg nun in das Gurgler Tal hineinführt, wo gleich zu Beginn einer der besten Kaiserschmarrn der Region serviert wird - im Sahnestüberl.





Tiefenentspanntes Hochlandrind vor der eindrucksvollen Kulisse des Gurgler Ferners
In Obergurgl angekommen, ändert sich die Kulisse. Im Talschluss ragen markante Gipfel in den Himmel und zwischen diesen streckt sich die eisige Zunge des Gurgler Ferners talwärts. Der Urweg wird nun hochalpin. Auf dem langen Zustieg zieht er sich hinauf zum Ramolhaus. Das „höchste Haus Hamburgs“ liegt auf einer exponierten Felsnase in 3006 m Höhe - Auge in Auge mit dem Gletscher. Der spektakulärste Pausenplatz auf dem Ötztaler Urweg ist auch für einen längeren Aufenthalt lohnend. Wer es zeitlich einrichten kann, der sollte eine Übernachtung in der denkmalgeschützten Berghütte in Betracht ziehen. Ein Sonnenaufgang wie hier oben, wenn die ersten goldenen Strahlen den Gurgler Ferner langsam wachküssen, ist selbst in den mit Schönheit gesegneten Ötztaler Alpen nur schwer zu finden. „Das sind meine 10 Minuten: Eine Tasse Kaffee, totale Stille und dieser Anblick - das lasse ich mir nicht nehmen“, gerät selbst Hüttenwirt Martin ins Schwärmen, der sich auch in seinem dritten Sommer noch nicht sattgesehen hat an diesem Naturschauspiel. Auf all diejenigen, die sich eher als „Bergwanderer“ bezeichnen würden, wartet im Anschluss eine echte Herausforderung: das Ramoljoch. Zwar ist der Aufstieg mit zahlreichen Tritten und Stahlseilen bestens versichert, dennoch sind Schwindelfreiheit und gute Bedingungen nötig, um die steile Wand zu bewältigen. Auf dem „Höhepunkt“ dieser Fernwanderung angekommen, auf 3189 m, wartet ein landschaftlich wunderschöner Abstieg, umgeben von Spiegelferner, Similaun und Wildspitze.
Vom exponierten Ramolhaus geht es weiter in Richtung Ramoljoch, dem Höhepunkt des Ötztaler Urwegs




Nach einer erholsamen Nacht im Bergsteigerdorf Vent, setzt sich die Wanderung auf dem beliebten Panoramaweg in Richtung Tiefenbachgletscher fort. Vorbei am Weißkarsee, der wie eine kleine Oase voller Wollgras inmitten der Felswüste liegt, verlässt der Urweg langsam wieder die hochalpinen Lagen und steigt in das sanftere Almgelände ab. Es folgen zwei weitere Übernachtungen in ruhigen Hanglagen, in Gaislach und Granstein, bevor es auf der 9. Etappe wieder auf den Talboden zurückgeht. Auf dem Weg nach Längenfeld gewährt der Urweg einen bärigen (oder teuflisch schönen?) Blick über das weite Talbecken, das einst von Wasser bedeckt war. Die beliebten Aussichtspunkte heißen nicht umsonst „Bärenfalle“ und „Teufelskanzel“. Der anschließende Streckenabschnitt verläuft über Wiesen und Felder an der Ache entlang, bevor er im Bergwald aufsteigt, den versteckten Winkelbergsee passiert und die gemütliche Wurzbergalm ansteuert. Was nun folgt ist Erdentstehungsgeschichte zum Anfassen! Im Gebiet um das kleine Bergdorf Köfels spielte sich vor knapp 10000 Jahren ein gewaltiger Bergsturz ab, der den Tauferberg bei Niederthai aufschüttete und somit auch den Stuibenfall schuf - auf der gegenüberliegenden Talseite wohlgemerkt, um dem Ganzen eine Dimension zu geben. Es ist faszinierend zu sehen, wie aus derartiger Zerstörung so viel Schönheit entstehen kann. Die willkürlich verteilten Felsbrocken, mit Moos überzogen und von Wurzeln umschlungen, begleiten den Urweg auch noch auf der vorletzten Etappe, von Umhausen nach Sautens, vor allem im märchenhaften Bergwald rund um den Piburger See. Zum Abschluss führt die Wanderung durch das „Forchet“ hinunter ins Inntal, wo der kleine Sandstrand am Innsteg ein wenig Karibik-Feeling verbreitet. Am Ufer entlang „fließt“ der Urweg zurück zu seinem Ursprung, den er nach 180 km und endlosen Eindrücken erreicht.
Blick auf das breite Talbecken und Umhausen
Sommerfeeling am Piburger See - ein traumhafter Pausenplatz auf dem Ötztaler Urweg




Der Urweg ist wie das Leben selbst - ein stetiges Auf und Ab: Es gibt diese Momente in perfekter Harmonie, aber auch große Herausforderungen, die einen wachsen lassen. Es geht durch tiefe Täler, manchmal auch nah am Wasser gebaut, aber im Anschluss immer wieder hoch hinaus. Nur Stillstand ist verboten - außer zum Innehalten und Genießen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in Ausgabe 03/2021 des Magazins ALPIN - Leben für die Berge. Das Heft kann bei Interesse hier bestellt werden Heftbestellung Ausgabe 03/2021
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